Entweichung eines Strafgefangenen oder Untersuchungshäftlings im türkischen Strafrecht

Entweichung eines Strafgefangenen oder Untersuchungshäftlings befindet sich im Art. 292 des türkischen Strafgesetzbuchs (tStGB), im zweiten Teil des vierten Abschnitts des 2. Buches zum Besonderen Teil des tStGB unter „Straftaten gegen die Rechtspflege“. Gem. Art. 97 I des t.StVG ist Art. 292 ff. tStGB auch auf Strafgefangene anzuwenden, die für einen Hafturlaub die Vollzugsanstalt mit Genehmigung verlassen haben und nicht zurückkommen bzw. nach mehr als 2 Tagen nach Ablauf der Genehmigung zurückkommen. Das geschützte Rechtsgut ist bei Entweichen eines Strafgefangenen oder Untersuchungshäftlingen das berechtigte Interesse von Jedermann am Vollzug des Haftbeschlusses bzw. der Strafe. Art. 292 tStGB ist ein Sonderdelikt. Täter dieser Straftat kann nur derjenige sein, über den ein Haftbefehl oder eine rechtskräftige Freiheitsstrafe ergangen ist. Geschädigte ist jede Einzelperson in der Gesellschaft. Da dieses Delikt keine Straftat gegen die Person darstellt, gibt es auch kein konkreter Geschädigter. Entweichen eines Strafgefangenen oder Untersuchungshäftlings kann durch zwei Verhaltensweisen begangen werden: die erste Möglichkeit ist das Entweichen des Strafgefangenen oder Untersuchungshäftlings aus einer Untersuchungshaftanstalt, Vollzugsanstalt oder den Bediensteten, unter deren Bewachung er steht (Art. 292 Abs.1 tStGB). Die zweite Möglichkeit ist, dass der Strafgefangene, der für einen Hafturlaub die Vollzugsanstalt mit Genehmigung verlassen hat, nach Ablauf dieser Genehmigung zur Vollzugsanstalt nicht zurückkehrt oder es versäumt, innerhalb von 2 Tagen nach Ablauf der Genehmigung zur Vollzugsanstalt zurückzukehren (CGIK Art. 97 Abs.1). Begehung der Tat mit Drohung oder Gewalt ist strafverschärfender Grund. Bewaffnete oder Mit Anderen Gemeinschaftliche Begehung der Tat ist auch strafverschärfender Grund. Es ist als ein Strafmilderungsgrund geregelt, wenn ein Strafgefangener oder Untersuchungshäftling nach seinem Entweichen Reue zeigt und innerhalb von 6 Monaten nach seinem Entweichen sich selbst stellt. Für beide Varianten der Tathandlung ist Vorsatz vorausgesetzt. Eine fahrlässige Begehung dieser Straftat ist nicht möglich, denn eine Fahrlässigkeitsvariante für diese Straftat gesetzlich nicht vorgesehen ist. Versuch ist strafbar. Entweichen eines Strafgefangenen oder Untersuchungshäftling zeigt keine Besonderheit im Hinblick auf Teilnahme. Die allgemeinen Grundsätze der Teilnahme finden hier Anwendung. Entweichen eines Strafgefangenen oder Untersuchungshäftling ist ein Dauerdelikt. Wird bei Begehung des Entweichens eines Strafgefangenen oder Untersuchungshäftlings einer der schweren Fälle einer vorsätzlichen Körperverletzung, eine vorsätzliche Tötung oder eine Sachbeschädigung begangen, so wird außerdem eine Strafe gemäß den Vorschriften über diese Straftaten verhängt (Art. 292 Abs.4 tStGB). Diese Regelung wird in der Lehre mit Recht oft kritisiert. Sie verstöße gegen Art. 38 Abs. 5 der türkischen Verfassung, da Art. 38 Abs.5 vorsieht, dass niemand dazu gezwungen werden kann, Beweise gegen sich selbst oder gegen seinen Verwandten auszuhändigen oder auszusagen (nemo tenatur-Grundsatz). Sie sei auch im Hinblick auf Art. 1 tStGB bedenklich, da sie gegen den Grundsatz des Schutzes der Grundrechte und –freiheiten verstößt. Meines Erachtens soll ein Strafgefangener oder Untersuchungshäftling wegen Entweichen nicht bestraft werden. Der Staat ist für Vollzug der Strafen zuständig und ihm steht für Durchsetzung der Strafen auch Staatsgewalt zur Verfügung. Von dieser staatlichen Berechtigung zu unterscheiden ist die Bemühung von Einzelnen, rechtskräftige Freiheitsstrafen zu vermeiden. Solche Bemühungen sind natürliche, instinktive Handlungen von Verurteilten. Wenn man sich die Regelungen über Notwehr anschaut, kann man erkennen, dass natürliche bzw. instinktive Handlungen im Rahmen der Notwehr als Rechtfertigungsgrund anerkannt sind. Es ist anerkannt, dass man im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens nicht dazu gezwungen werden darf, Beweise gegen sich selbst oder gegen einen Verwandten auszuhändigen oder sich selbst oder einen Verwandten zu belasten. Man wird nicht bestraft, wenn man über eine Straftat, mit der man beschuldigt ist, lügt. Er wird nicht dazu gezwungen, diesbezüglich die Wahrheit zu sagen. Deshalb halte ich es bei dieser Straftat für unrichtig, dass man für Handlungen, die naturgemäß bloß auf Vermeidung von Vollzug einer Freiheitsstrafe gerichtet sind, bestraft wird. Vergleichbar zum Grundtatbestand dieses Delikts ist die Situation von demjenigen, der von seiner Verurteilung erfährt und die Haft nicht antritt, flieht oder andere Vorkehrungen trifft, um nicht festgenommen zu werden. Solche Handlungen sind gem. tStGB nicht strafbar. Wenn solche Handlungen nicht strafbar sind, soll man auch nicht bestraft werden, weil man aus einer Vollzugs- bzw. Untersuchungshaftanstalt entweicht, nachdem man in eine solche Anstalt gebracht wurde. Deshalb bin ich der Meinung, dass der Grundtatbestand dieses Delikts aus dem tStGB weggestrichen werden soll.

Entweichung eines Strafgefangenen oder Untersuchungshäftlings im türkischen Strafrecht

Breach of prison is regulated under article 292 under the heading of Offences Against The Judicial Bodies or Court in the second chapter of the fourth section in the second book concerning special provisions of the Turkish Penal Code (TPC). It is also admitted under article 97/1 of The Law on the Execution of Penalties and Security Measures (LEPSM) that convicts who fail to return from a leave or who return with a delay of more than two days shall be liable to the provisions stipulated in Article 292 and the following articles of TPC. Legally protected interest of breach of prison is the benefits of the execution of detainment or conviction of detainee or convicted for individuals in community. The article is regulated as a particular offense. Perpetrator of this crime should be a convicted or detainee person. The victim is all the individuals of the community. There is not a victim in concrete meaning while the crime is not an offense against individuals. The crime of breach of prison may commited with two different pattern of behaviour. The first of these occurs with escape of detainee or convict from prison, penitentiary or custody of an officier (Art. 292/1 of TPC). The second option occurs with fail to return or return with a delay of more than two days of detainee or convict (Art. 97/1 of LEPSM). The cases of commission of this offense by using force or threat either jointly or armed are factual qualifications which require heavier punishment. Sincere repentance is regulated as a personal reason which seek mitigation of punishment.    Moral element of the crime is general malice and the crime can not be committed with negligence. The Attempt to commit this crime is sentenced. Voluntary abandonment is also possible. Breach of prison does not show a feature in terms of participation in commission of a crime. General provisions of participation is applied. Breach of prison is a continuing offense. During commission of breach of prison crime, in case of the an offence aggravated as a result of injurious consequences or homicide, or damage to property is additionally punished according related articles of such offences. The Article is criticized justifiably in doctrine, with its defiance to principle against self‐incrimination (nemo tenatur) regulated under article 38/5 of Constitution or principle of protection the individual right and freedom regulated under Article 1 under the heading “Object of Criminal Code” of TPC. In our opinion, it is not right to punish a detainee or a convict because his/her attempt to escape. Such initiatives are natural, instinctive human reactions of individuals. Thus, regulations which take this into account, recognize the self defence as an compliance with the laws. In other words, such regulations recognize that individuals under criminal investigation, can not be forced to make a statement that would incriminate himself/herself or his/her legal next of kin, or to present such incriminating evidence. While recognizing the unpunishment of lying concerning accused offense, it does not force accused to tell the truth. Hence, we do not approve the punishment of breach of prison of an individual who naturally exhibit a behaviour for the unexecution of punishment or the escape. We think that individuals who escapes after detention or conviction in a penitentiary or a prison, should not be punished only because of breach of prison, just as unpunishment of a convict who does not give up one’s self, flees and applies various methods, after learning his/her decision of conviction, and that the basic form of this crime should be extracted.

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  • Artuk, Mehmet Emin, Türkiye Barolar Birliği Toplumsal Değişim Sürecinde Türk Ceza Kanunu Reformu Paneli (Ankara 21‐22 Mayıs 2004), “Adalet Hizmetlerinin Yürütülmesine Karşı Suçlar” Başlıklı Podyum Tartışması.
  • Malkoç, İsmail, Açıklamalı – İçtihatlı 5237 Sayılı Yeni Türk Ceza Kanunu, C. IV, Ankara 2013.
  • Parlar, Ali / Muzaffer Hatipoğlu, Açıklamalı – Yeni İçtihatlarla 5237 Sayılı Türk Ceza Kanunu Yorumu, C. IV, Ankara 2010, s. 4403.
  • Ünver, Yener, Adliyeye Karşı Suçlar, 3. Baskı, Ankara 2012.
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  • Yıldız, Ali Kemal, Tehdit, Şantaj ve Cebir Suçları, Alman‐Türk Karşılaştırmalı Ceza Hukuku (Yayına Hazırlayanlar: Eric Hilgendorf / Yener Ünver), C. III, İstanbul 2010.