Politisches Theater oder Theater politisch machen? Brecht im deutschsprachigen Theater der Gegenwart

Das deutschsprachige Theater der Gegenwart zeichnet sich durch eine große Bandbreite an ästhetischen und dramaturgischen Formen aus. Eine überwiegende Mehrzahl von ihnen kann man als Regietheater bezeichnen, die sich mehr oder weniger auf die Ästhetik, Theorie und Theaterarbeit von Brecht zurückführen lassen. Jahrelang wurde der Einfluss Brechts kaum mehr bewusst wahrgenommen, dies ändert sich seit der Jahrtausendwende, seit 9/11, Finanzkrise und drohendem Klimawandel. Neben einem aktuellen Überblick über avancierte Formen des deutschsprachigen Gegenwartstheaters soll aufgezeigt werden, dass sich heute eher gegensätzliche Ästhetiken wie der dramatisch-soziale Realismus auf der einen und postdramatisches Theater auf der anderen Seite gleichermaßen als Erb*innen Brechts verstehen. Politisches Theater machen oder Theater politisch machen, der Bezug auf Brechts Schaustücke oder auf Brechts Lehrstücke setzt differente Schwerpunkte, die sich auch auf den Schauspielstil des Gegenwartstheaters allgemein auswirken. Die dialektische Differenz zwischen Rolle und Schauspieler*in stellt im deutschsprachigen avancierten Theater eher den Normalfall dar, auch wenn es sich jeweils anders ästhetisch ausprägt. Jüngere Theatermacher*innen entdecken zudem vermehrt den revolutionären Brecht, etwa im Engagement des Theaters gegen die zunehmende Ungerechtigkeit und den Klimawandel.

Political Theater or Making Theater Political? Brecht’s Influence on Contemporary German-Language Theatre

A diverse range of aesthetic and dramatic forms characterizes contemporary German-language theater. The vast majority of them are directors’ theaters, which can be traced back to Brecht’s aesthetics, theory, and theatrical work. For many years, Brecht’s influence went unnoticed, but that has changed since the millennium’s turn, with 9/11, the financial crisis, and the threat of climate change. In addition to providing a current overview of advanced forms of contemporary German-language theater, this study shows that today, seemingly opposing aesthetics, such as dramatic-social realism on the one hand and post-dramatic theater on the other hand, see themselves as heirs to Brecht. Making political theater or making theater political, the reference to Brecht’s “Schaustücke” or Brecht’s “Lehrstücke” establishes different priorities, which influence the acting style of contemporary theater in general. Even if it is aesthetically different in each case, the dialectic difference between role and actor is more common in German-speaking state-of-the-art theater. Younger theater-makers are also increasingly discovering the revolutionary Brecht, as evidenced by the theater’s commitment to combating increasing injustice and climate change.

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