Thorsten Becker bleibt „Sieger nach Punkten“ Roman

Ob es eher als Angebot oder Zumutung zu verstehen ist, wenn ein aktueller zeitgenössischer Roman ohne Glossar 922 Seiten umfasst – das hängt sicherlich stark vom jeweiligen Einzelfall ab. Thorsten Beckers Roman Sieger nach Punkten, 2004 im Rowohlt-Verlag in Reinbek erschienen, ist schwer wie ein Brikett, ausführlich und ausschweifend – aber trotz einiger Längen doch insgesamt ein großer Wurf. Ja man kann sagen, nach Barbara Frischmuths Verschwinden des Schattens in der Sonne von 1973 und Sten Nadolnys Selim oder Die Gabe der Rede von 1990 liegt jetzt ein dritter epischer Text vor, in dem die Türkei und das Thema der Migration aus der Sicht der deutschsprachigen Mehrheitsgesellschaft literarisch dargestellt wird – wobei im Falle Beckers zu beobachten ist, dass sich hier ein deutscher Schriftsteller um eine fast vollständige Einfühlung in die Rolle der Türken, in deren Mentalität und (individuelle wie kollektive) Geschichte bemüht. Jedenfalls ist festzuhalten, dass jetzt der neueren deutsch türkischen Literatur, die vor allem mit den Namen Emine Sevgi Özdamar, Feridun Zaimoglu und Zafer Şenocak verbunden ist, ein „deutsch-deutscher“ epischer Entwurf entspricht, der als eine adäquate Antwort auf die Herausforderung verstanden werden kann, welche die türkische Migration gegenüber der Mehrheitsgesellschaft darstellt. Beckers Roman verbindet auf eine durchaus im positiven Sinne altmodische Weise Vergnügen und Belehrung, indem er farbige Schilderungen gegenwärtiger Lebensentwürfe mit einer geradezu enzyklopädischen Darstellung der osmanisch-türkischen Geschichte verbindet.

Thorsten Becker bleibt „Sieger nach Punkten“ Roman

Auf der zweiten Ebene lassen sich eine Familiensaga und ein Schelmenroman erkennen mit dem Übergang aus der agrarisch- vormodernen Türkei in das industrialisierte Deutschland, am Ende in das großstädtische Berlin; wir finden zunächst eine sinnlich reiche Schilderung abenteuerlicher Geschichten vom Raub einer Braut, von der Bemühung der Brüder um Rache; danach eine satirisch-nüchterne Darstellung der Erlebnisse von Nasrettins Vater Öktay in Deutschland; schließlich eine Art Schelmen- und Entwicklungsroman des jungen Nasrettin, der in der Schule einen völligen Misserfolg erlebt, sich aber zum Anführer einer Jugendbande aufwirft, durch das Boxen Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung erwirbt und nach einer gescheiterten Beziehung zu einer